Der Politiker Jürgen Todenhöfer hat seine mutige Feigheit jetzt auf 280 Seiten beschrieben. In einem Buch, welches man unbedingt lesen sollte – auch wenn man nicht seiner Meinung ist.
Es gibt wenige Bücher, die man in einem durchgelesen kann. Inside IS – 10 Tage im Islamischen Staat aus gutem Grund dazu gehören. Nicht deshalb, weil ich glaubte, darin grundlegend Neues zu erfahren. Sondern weil da ein Mensch, der sich in einer auf Faulheit eingerichteten bequemen modernen Welt mit ihren Tausenden verlockenden Informationsmöglichkeiten noch den unsäglichen Strapazen unterzieht, unter Lebensgefahr den Dingen auf den Grund zu gehen und die Wahrheit zu suchen. Todenhöfer ist ein Politiker, der in der Vergangenheit schon viele unbequeme Fragen stellte und deshalb wie kaum ein anderer verunglimpft wurde: Die einen nennen ihn verächtlich »Hodenköter«, andere »Doofenhöfer« – die Liste der bewusst verunglimpfenden Verballhornungen seines Namens ist endlos lang.
Sein neues Werk Inside IS – 10 Tage im Islamischen Staat ist keineswegs eine schwere unverdauliche Kost, welche den Durchschnittsbürger schon beim Betrachten des Titels abschrecken könnte. Genau das Gegenteil ist der Fall. Da schreibt einer sogar in Nebensätzen Dinge auf, die einen schallend lachen lassen. Auf Seite 164 vermerkt Todenhöfer etwa beiläufig und trocken, wie auch das deutsche Bundeskriminalamt irgendwann mitbekam, dass er auf dem Weg zu den Radikalislamisten des Islamischen Staates war und ihn dann auf seinem Mobiltelefon anrief.
Über das Gespräch mit dem BKA-Mann schreibt der Autor: »Man habe erfahren, dass ich vorhätte, den IS zu besuchen. Man rate mir dringend davon ab. Immerhin gebe es eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes.« Man kann sich auch als Laie bei dieser Passage plötzlich gut vorstellen, wie da beim BKA gearbeitet wird. Nach Vorschriften und in Schubladen und Akten penibel abgelegten Dienstanweisungen. Das eigene Gehirn ist weitgehend überflüssig.
Kein deutscher BKA-Beamter hat den Islamischen Staat je von innen gesehen. Aber ganz viele unserer »Sicherheitsexperten« reden über die Kämpfer des IS. Ihre »Informationen« beziehen sie aus zweiter, dritter, vierter oder vielleicht nur tausendster Hand. Und finden es selbstverständlich, das nicht nachprüfbare so gezeichnete Bild einfach nachzuplappern. Im Gegensatz dazu steht Todenhöfer, der schon auf den ersten Seiten die uns von Politik und Massenmedien eingehämmerten Denkschemata einreißt. Da heißt es etwa auf Seite zehn des Buches: »Fast jeder Anschlag im Irak wurde von den US-Besatzern großzügig Zarkawi zugeschrieben (…). Die US-Führung brauchte nach dem Sturz Saddam Husseins ein einprägsames diabolisches Feindbild, um die nicht endenden Kämpfe im Irak vor ihren Wählern zu rechtfertigen.«
Todenhöfer beschreibt zunächst einfühlsam und nachvollziehbar, wie unsere Medien von US-Propagandisten aufgebaute Feindbilder der USA übernehmen. Äußerst brutal schildert der Autor ab Seite 18 die Einseitigkeit der Berichterstattung unserer Medien. Die präsentieren die von den USA zu diabolischen Monstern stilisierten Kämpfer der arabischen Welt stets in der
grausamsten Weise, verschweigen jedoch, dass wir selbst noch vor wenigen Jahren ganz genauso vorgegangen sind: Französische Soldaten haben algerischen Frauen im Unabhängigkeitskrieg nun einmal tatsächlich zum Spaß die Brüste abgeschnitten oder Kinder an Mauern zerschmettert. Sie hatten einen Zeitvertreib, bei dem sie Kleinkinder in die Luft warfen und mit ihren Bajonetten aufspießten.
Die Briten standen dem in nichts nach. Sie erprobten sogar ihre Giftgase an Arabern. Und die Amerikaner haben noch vor wenigen Jahren erst in irakischen Gefängnissen und dann auch in Guantánamo afghanische Häftlinge immer wieder von Kampfhunden vergewaltigen (!) lassen. Unsere Medien blenden so etwas aus. Oder sie haben es schlicht vergessen und verdrängt. Die vielen Zarkawis da draußen und die Muslime von nebenan haben es aber nicht vergessen. Tatsache ist: Islamische Kämpfer haben in den vergangenen Jahren weitaus weniger Zivilisten getötet als etwa die Amerikaner im Irak und in Afghanistan.
Nun rechnet Todenhöfer nicht etwa Tote gegeneinander auf. Nein, er erwähnt nur auch die andere Seite jener Medaille, die von unseren Medien immer nur einseitig abgebildet wird. Und er beschließt, die Gedankenwelt jener aus erster Hand kennenzulernen, welche den Westen heute das Fürchten lehren: IS-Kämpfer. Todenhöfer und sein Sohn Frederic chatten zunächst mit diesen, treffen sich in Deutschland mit der Mutter eines IS-Kämpfers und reisen dann über die Türkei zum IS.
Weite Teile des Buches befassen sich mit den Vorbereitungen dieser Reise und mit den Versuchen der Kontaktaufnahmen. Vor allem mit der Frage, ob und wie man sicherstellen kann, das IS-Gebiet auch wieder lebend zu verlassen. Schließlich waren vor der Einreise von Todenhöfer dort Journalisten stets vom IS getötet worden. Es finden sich auch in diesen Kapiteln immer wieder Hinweise, welche in deutschen Medien schlicht verschwiegen werden. So heißt es auf Seite 84 wie selbstverständlich, dass Deutschland saudische Geheimdienste ausbildet. Allein diese beiläufige Aussage wäre wohl ein Fall für einen Untersuchungsausschuss und den Rücktritt der dafür verantwortlichen Politiker.
Im Dezember 2014 ist es soweit: Todenhöfer reist unter abenteuerlichen Umständen aus der Türkei in das IS-Gebiet ein. Er hat einen Schutzbrief der IS-Führung, der ihm in den kommenden Tagen ganz sicher das Leben retten wird. Denn sein britischstämmiger Fahrer des IS, der sein Gesicht und seine Hakennase stets vor Todenhöfers Blicken gut zu verhüllen sucht und mehr als einmal ausrastet, hat mehr als nur ein dunkles Geheimnis. Mitten in der Todeszone wird Todenhöfer und seinem Sohn klar, wer dieser geheimnisvolle Mann in Wahrheit ist. Und spätestens von dieser
Sekunde an kann kein Thrillerautor bei der Spannung mehr mithalten. Inside IS – 10 Tage im Islamischen Staat ist in einer Welt vorgekauter Medienpropaganda nicht nur ein bewundernswerter Augenöffner, sondern zugleich eine atemraubende Erzählung, die es verdient hat, in den Bestsellerlisten ganz oben zu landen.
Ich kann nachempfinden, was Todenhöfer empfunden haben muss, nachdem er das Gebiet des IS wieder verlassen hatte. Vor mehr als zwei Jahrzehnten bin ich aus dem Südosten Irans nur mit einem Schutzbrief ausgestattet nach Afghanistan gereist und war plötzlich den Mudschaheddin ausgeliefert. Gerade vor diesem eigenen Erleben mit tagelanger Todesangst kann ich Todenhöfers Ängste gut nachvollziehen. Und ich kann jedem nur empfehlen, Inside IS – 10 Tage im Islamischen Staat zu lesen. Es lohnt sich bis zur letzten Seite.
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